Mensch gegen Maschine: Die Entwicklung des Aktuars in einer Welt des automatisierten maschinellen Lernens

Versicherungsmathematiker haben zunehmend Techniken des maschinellen Lernens in ihre mathematischen Modelle integriert. Werden Aktuare dadurch irgendwann überflüssig? Dieser Artikel von RGA gibt Antworten.
Veröffentlicht am 06.04.2021

Gort. Der Terminator. Wall-E. HAL 9000 ... und AutoML?

Populäre Bilder von künstlicher Intelligenz (KI) können uns erschrecken, inspirieren und amüsieren - aber die reale Sache, AutoML (automatisiertes maschinelles Lernen oder AML), verwirrt uns oft nur. AML kann nicht laufen. Es redet nicht (notwendigerweise). Aber diese Art von Software ist so intelligent, dass sie sich selbst das Programmieren beibringen kann, und sie könnte es Versicherern ermöglichen, Aufgaben in so unterschiedlichen Bereichen wie Betrugsermittlung, Bewertung und Stornoerkennung zu automatisieren. Für einige klingt diese Entwicklung erschreckend. Für andere ist es aufregend. Aber für viele ist es einfach nur verwirrend.

Viele frühere Versuche, KI anzuwenden, sind an den natürlichen Grenzen der Datenverfügbarkeit, der Speicherkapazität und der Rechenleistung gescheitert, aber diese Barrieren fallen jetzt. Die Fortschritte im Chipdesign haben zu einer exponentiellen Steigerung der Verarbeitungsleistung und der Informationsspeicherung geführt. Die Ergebnisse sind in vielen Bereichen dieser Disziplin sichtbar, von raschen Fortschritten bei den grundlegendsten Formen der KI, der Sprach- und Objekterkennung bis hin zu fortgeschritteneren Formen des maschinellen Lernens.

Eine Trendwende

AutoML befindet sich an der Spitze dieser technologischen Nahrungskette. Vor einigen Jahren erfanden die KI-Forscher von Google eine KI-Software, um weitere KI-Software zu generieren - um sich praktisch selbständig zu regenerieren. Zur Überraschung seiner Schöpfer war AutoML nicht nur in der Lage, neuronale Netzwerkarchitekturen ohne menschliche Eingaben zu erstellen, sondern die Software schuf sogar Modelle, die leistungsfähiger und effizienter waren als die von Menschen entwickelten. Die Forscher haben sich selbst aus dem Job gecodet.

Natürlich weckt die Vorstellung, dass ein Computer zu solchen Meisterleistungen in Sachen Einfallsreichtum und Erkenntnis fähig sein könnte, große Ängste - insbesondere bei Wissensarbeitern. Wenn man in die Google-Suchleiste "Wird die Automatisierung" eingibt, sind die ersten vier Sätze, die die KI automatisch ausfüllt, alle arbeitsplatzbezogen: "Wird die Automatisierung Arbeitsplätze vernichten?", "Wird die Automatisierung mehr Arbeitsplätze schaffen?", "Wird die Automatisierung Arbeitsplätze ersetzen?" und "Wird die Automatisierung unsere Arbeitsplätze übernehmen."

Die Versicherungsmathematik und das Versicherungswesen im Allgemeinen sind ein Schmelztiegel für diese Sorgen.  Auf der Insurtech Connect-Konferenz 2017 in Las Vegas deutete Daniel Schreiber, Chief Executive Officer des Startups Lemonade, an, dass KI die traditionelle Rolle des Aktuars verdrängen wird, und erklärte, dass "die nächsten Führungskräfte in der Versicherungsbranche Bots und nicht Makler und KI und nicht Aktuare einsetzen werden." Versicherungsmathematiker haben zunehmend Techniken des maschinellen Lernens in ihre mathematischen Modelle integriert. Wird das fortgeschrittene maschinelle Lernen Aktuare irgendwann überflüssig machen, wie Daniel Schreiber behauptet?   

Das sehen wir nicht so. AML ist zwar ein Hilfsmittel, das das menschliche Denken ergänzen oder unterstützen kann, aber es kann es nicht vollständig ersetzen. Das wahrscheinlichste Ergebnis ist, dass es zu einer Veränderung der den Aktuaren zugewiesenen Rollen und Verantwortlichkeiten führen wird, indem mehr versicherungsmathematische Routineaufgaben automatisiert werden, nur um neue Entwicklungsmöglichkeiten für Aktuare zu schaffen.

Die Grenzen der (künstlichen) Vernunft

Automatisierung ist nicht binär - sie ist ein Kontinuum, eine komplexe Kombination aus menschlicher Vernunft und maschineller Verarbeitung. Beispielsweise sind die Automobilhersteller seit der Erfindung des Antiblockiersystems auf dem Weg zum selbstfahrenden Auto, aber nur wenige von uns würden heute ein Kind allein in ein autonomes Fahrzeug setzen. Das liegt daran, dass die vollständige Automatisierung komplexer Aufgaben enorm schwierig ist, und selbst nach Jahren der Forschung und Entwicklung benötigen selbstfahrende Autos, die zu 85 % automatisiert sind, immer noch einen menschlichen Fahrer, der im Notfall das Steuer übernimmt. Die Erreichung einer 100%igen Automatisierung könnte in der Tat einige Zeit dauern.

In ähnlicher Weise erfordert AML einen Versicherungsmathematiker oder Datenwissenschaftler, um den Modellierungsprozess voranzutreiben, aber die KI kann viele Analyseaufgaben über eine breite Palette von Informationsquellen automatisieren. Und noch nie gab es mehr Daten, mit denen die Versicherer arbeiten mussten. Versicherungsmathematiker schwimmen in einem Meer von alternativen Datenmöglichkeiten, von sozialen und Streaming-Medien über tragbare Geräte an unseren Handgelenken bis hin zu einer Reihe von mit dem Internet verbundenen Geräten in unseren Haushalten (das Internet der Dinge). All diese vernetzten Systeme haben das Potenzial, praktisch in Echtzeit Einblicke in Risiken zu geben, aber nur, wenn die Daten effizient analysiert werden können. AML automatisiert mehrere der schwierigsten Schritte in der Datenpipeline und ermöglicht es den Versicherern, die Nutzung alternativer Datenquellen für die Risikobewertung zu beschleunigen, und es eröffnet das Potenzial für neue versicherungsmathematische Tarifierungsfaktoren und feiner abgestimmte, maßgeschneiderte Produktdesigns.

Ki als Wegbegleiter

AML ist für Versicherer sinnvoll, die den Modellierungsprozess beschleunigen und Aktuare von banalen Aufgaben befreien wollen. Sie ist auch für kleinere Versicherer sinnvoll, die nur begrenzten Zugang zu Data Science-Talenten haben.  Dennoch ist es wichtig, KI mit Bedacht anzugehen. In der Versicherungsbranche sind spärliche oder lückenhafte Datensätze keine Seltenheit, z. B. Informationen über verschriebene Medikamente oder über jüngere Versicherungsnehmer. Angesichts dieser Lücken interpoliert oder extrapoliert AML mathematisch - und das manchmal auf falsche Weise. Unter diesen Umständen sind nach wie vor erhebliche aktuarielle Eingaben und Annahmen erforderlich.

Die Versicherer müssen auch den stark regulierten Charakter der Branche bedenken. Während die Datenproduktion zunimmt, wächst auch die Sorge um den Datenschutz und den regulatorischen Schutz der Verbraucher. Vor allem die Allgemeine Datenschutzverordnung der Europäischen Union (GDPR) räumt den Verbrauchern das Recht ein, die Weitergabe von Daten abzulehnen, und die Bereitschaft der Versicherten, einen Vertrauensvorschuss zu geben und diese Informationen zur Verfügung zu stellen, wird die Menge der für die Risikoanalyse verfügbaren Daten direkt beeinflussen.

Es ist wichtig, die Relevanz der Daten für die Risikovorhersage immer wieder unter Beweis zu stellen und sich an einer breiteren gesellschaftlichen Debatte über den Wert und die Zukunft der Versicherung zu beteiligen. Dies setzt voraus, dass die Versicherer Bedenken über rein korrelative Beziehungen oder die Möglichkeit, dass bestimmte Proxy-Variablen unbeabsichtigt dazu verwendet werden, Tarifierungsentscheidungen auf der Grundlage geschützter oder gesellschaftlich inakzeptabler Faktoren wie ethnische Zugehörigkeit, sexuelle Orientierung oder Bildungsstand zu treffen, ausräumen. AutoML mag intelligent sein, aber es ist auch völlig naiv. Es kann jede beliebige Variable verwenden, um zu prädiktiven Schlussfolgerungen zu gelangen, und es wird an den Menschen liegen, seine Verwendung ethisch zu steuern. Die Branche muss sich ständig die Frage stellen: "Nur weil wir es können, heißt das, dass wir es auch tun sollten?"

Der Aktuar von damalas und heute

Niemand kann die Zukunft genau vorhersagen, aber Versicherungsmathematiker sind nahe dran, und es scheint klar, dass sich der Beruf weiterentwickeln muss, um neben AutoML und anderen Formen der KI zu bestehen. Der Lehrplan für Versicherungsmathematiker wird in den kommenden Jahren wahrscheinlich mehr Data-Science-Schulungen und -Techniken enthalten. Ebenso scheint die Nachfrage nach rein technischen versicherungsmathematischen Funktionen mit zunehmender Automatisierung zu sinken, während die Betonung auf kreativen und beziehungsfördernden Fähigkeiten wahrscheinlich zunehmen wird. Diese Trends sind nicht auf Aktuare oder Versicherer beschränkt. Eine kürzlich durchgeführte Studie der Oxford University hat ergeben, dass jeder Fachmann, der diese drei Fähigkeiten in seiner Funktion vorweisen kann, besser in der Lage sein wird, die kommende Automatisierungswelle zu bewältigen:

Soziale oder emotionale Intelligenz - Je mehr soziale Intelligenz für eine Funktion erforderlich ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese Funktion automatisiert werden kann.

Kreativität - Innerhalb des Spektrums der versicherungsmathematischen Aufgaben sind verschiedene Ebenen der kreativen Problemlösung erforderlich, und Aufgaben, die sich auf die Produktentwicklung oder den Aufbau von Beziehungen konzentrieren, werden sich als widerstandsfähiger erweisen.

Wahrnehmung - Rechtliche und regulatorische Änderungen sowie moralische und ethische Erwägungen werden auch in Zukunft den Kontext und die Intelligenz des Aktuars und anderer Versicherungsfachleute erfordern.

Die Versicherungsmathematik wird auch in Zukunft das Herzstück des Versicherungsgeschäfts sein, aber um relevant zu bleiben, müssen der Berufsstand und die Branche lernen, sich anpassen und weiterentwickeln. Wie der große Physiker William Pollard einmal sagte: "Die Arroganz des Erfolgs besteht darin zu glauben, dass das, was man gestern gemacht hat, auch morgen noch ausreicht." Wer bereit ist, das maschinelle Lernen zum Vorteil des Berufsstandes und des Endverbrauchers einzusetzen, dem bieten sich große Chancen.

Dieser Artikel wurde von RGA zur Verfügung gestellt und ursprünglich auf der RGA Website veröffentlicht : https://www.rgare.com/knowledge-center/media/articles/man-versus-machine-the-evolution-of-the-actuary-in-a-world-of-automated-machine-learning