"Aktuarinnen und Aktuare entwickeln sich zu einem äußerst gefragten Gesprächspartner" - Interview mit Lutz Wilhelmy, Vorstandsvorsitzender der AAE

Lutz Wilhelmy ist seit 2017 Mitglied des Vorstands der Actuarial Association of Europe (AAE) – der Dachorganisation der europäischen Aktuarvereinigungen - und ist seit Oktober 2022 neuer Vorsitzender. Herr Wilhelmy lebt in der Schweiz und arbeitet bei der Swiss Re als Risk and Regulation Advisor im Range eines Direktors. Außerdem engagiert er sich in der Schweizerischen Aktuarvereinigung, bei der er das Amt des Vizepräsidenten übernommen hat. Herr Wilhelmy hat einen Abschluss in Theoretischer Physik und einen Doktortitel in Mathematik, beides von der ETH Zürich.
Veröffentlicht am 14.02.2023

Herr Wilhelmy, zunächst einmal herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Wahl zum neuen Vorsitzenden der AAE! In diesem wichtigen Amt werden Sie die Interessen aller europäischen Aktuarinnen und Aktuare auf der internationalen Ebene vertreten. Welche Ziele verfolgt die AAE und auf welche Themen möchten Sie in Ihrer einjährigen Amtsperiode den Fokus legen?

Vielen Dank für die gute Wünsche. Die AAE wurde gegründet, um die europäischen Institutionen zu beraten. Über die Jahre hat sich daraus ein aktiver Dachverband der europäischen Aktuarinnen und Aktuare entwickelt. Seit 2016 definieren wir unsere Strategie entlang folgender Ziele:

  1. Der Vertiefung der Beziehung zu den europäischen Institutionen, 
  2. der Förderung des Berufsstandes sowie 
  3. der Bildung einer europäischen Gemeinschaft von Aktuarinnen und Aktuare.

Mit Blick auf das erste Ziel steht 2023 im Zeichen von Nachhaltigkeit und der europäischen digitalen Agenda. Wir suchen uns diese Themen nicht aus – sie sind durch die Prioritäten der EU vorgegeben. Weiterhin wird die Finalisierung des Solvency II-Reviews, die Richtlinie zur Sanierung und Abwicklung von Versicherungsunternehmen sowie die IORP II-Richtlinie eine Rolle spielen.  

Bezüglich des zweiten Ziels werden wir uns um das Abkommen zur gegenseitigen Anerkennung von beruflichen Qualifikationen kümmern. Hier ergeben sich Herausforderungen, da sich einige Aktuarvereinigungen dem Vorwurf der Ungleichbehandlung ausgesetzt sehen. Zudem wollen wir ein Gespräch über Anforderungen und den Nachweis von „fachlichen Qualifikationen" („fit and proper“) mit den betroffenen Verantwortungsträgern auf europäischer Ebene führen. Letztlich rührt das an die Frage nach notwendigen Fähigkeiten und geht somit über die reinen fachlichen Qualifikationen hinaus. Letzteres ist aber ein Thema, das nicht innerhalb eines Jahres befriedigend behandelt werden kann und uns somit länger begleiten wird.

Zum dritten Ziel möchten wir gerne helfen, den Berufsstand in den Ländern bekannter zu machen, in denen er in der Öffentlichkeit noch nicht so präsent ist. Dazu schlagen wir vor, eine europäische Marke zu etablieren, die für die Einhaltung der AAE-Vorschriften zu Ausbildung, Professionalität und Verhalten steht. Darüber hinaus planen wir mit unserem Event- und Ausbildungspartner, der European Actuarial Academy (EAA), wieder diverse Webinare, Roundtables, den European Actuarial Day am 27. Juni sowie den nächsten European Congress of Actuaries (ECA) im Frühsommer 2024 in Rom auszurichten.

Nach Ablauf des Jahres 2022 möchten wir auch einen Blick auf die vergangenen Monate werfen – welchen besonderen Herausforderungen standen Aktuarinnen und Aktuare europaweit aus Ihrer Sicht gegenüber?

Die besonderen Herausforderungen 2022 waren ganz klar der Krieg in der Ukraine und die Rückkehr der Inflation nach 40 Jahren vergleichsweise sehr moderater Inflationsraten.  

Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat alle Aktuarvereinigungen weltweit und deren Dachverbände, wie die International Association of Actuaries (IAA) und die AAE vor die Herausforderung gestellt, ihre Statuten daraufhin zu überprüfen, ob sie eine Verurteilung des Krieges zulassen oder gar nahelegen. Da sich Aktuarvereinigungen gewöhnlich nicht zu Themen ohne aktuariellen Bezug äußern, galt es hier, Neuland zu betreten. Mich hat die Professionalität und Umsicht, mit der sich die Organe und Arbeitsgruppen unserer aktuariellen Vereinigungen dieser Frage angenommen haben, tief beeindruckt: Dort, wo die Statuten einen hinreichenden Bezug zum Wohlergehen ihrer Gesellschaften haben, ist eine Verurteilung erlaubt und verhältnismäßig. So war es sowohl der IAA als auch der AAE möglich, Verurteilungen auszusprechen. Neben der politischen Dimension gab es die konkrete Hilfe für unsere Kolleginnen und Kollegen in der Region, bei der sich die nationalen Vereinigungen in Europa schnell und effektiv engagiert haben. Ein Grund, stolz zu sein!

Mit dem Krieg und den Nachwirkungen der Pandemie ist die Inflation nach Europa zurückgekehrt. Für die Älteren unter uns, die ihr Handwerk noch bei Persönlichkeiten gelernt haben, für die die Herausforderungen der Hoch-Inflation der 1970er Jahre prägend waren, wurden die Erinnerungen an die Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Reserven in den Sachversicherungssparten, insbesondere in der Haftpflicht und speziell in der nichtproportionalen Haftpflichtrückversicherung, aber auch bei der Geschäftsplanung in der Lebensversicherung, wieder wach. Die Aktuarinnen und Aktuare mit ihrem guten Gedächtnis sind gut vorbereitet, um diesen Herausforderungen zu begegnen.

Darüber hinaus haben uns die Dauerbrenner Nachhaltigkeit und Digitalisierung sowie das Solvency II-Review weiter beschäftigt. Beim Thema Nachhaltigkeit sind es nicht nur die einheitlichen Szenarien im ORSA, sondern auch die Quantifizierung, Komparabilität und Abgrenzung von Klimarisiken für die künftige Berichterstattung, die uns umtreiben. Für den Erfolg der Berichterstattung wird entscheidend sein, wie brauchbar diese Berichte für Investoren und die breite Öffentlichkeit sind. Hier besteht die Gefahr, dass man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Allerdings ist unser Einfluss auf diese Fragen äußerst beschränkt, da es sich nicht um eine versicherungsspezifische Vorschrift, sondern um sogenannte horizontale Regulierung handelt.

Ganz ähnlich verhält es sich mit der Umsetzung der digitalen Agenda der Europäischen Union. Auch hier ist der Ausgangspunkt sektorenübergreifend – auch hier ist die sachliche Einflussnahme der AAE stark eingeschränkt. So kommt es, dass KI-Systeme, die für die Risikobewertung und Tarifierung in Bezug auf natürliche Personen im Falle von Lebens- und Krankenversicherungen verwendet werden sollen, im aktuellen Entwurf des AI Acts (25. November 2022) als hochrisikohaft gekennzeichnet werden, ohne dass darüber ein nennenswerter sachlicher Expertendiskurs stattgefunden hätte.  

Welche weiteren Herausforderungen sehen Sie zukünftig auf den Berufstand zukommen?

Die Aktuarinnen und Aktuare entwickeln sich in letzter Zeit zu einem äußerst gefragten Gesprächspartner. Auf europäischer Ebene bedeutet das, dass wir als AAE sprech- und leistungsfähiger werden müssen, um den wachsenden Anforderungen gerecht zu werden. Daher streben wir an, die effektive Unterstützung unserer ehrenamtlichen Mitarbeiter zu verstärken. Wir haben mit solcher Unterstützung im Bereich Solvency II während der letzten Jahre sehr gute Erfahrungen gemacht.

Außerdem sind für uns vermehrt Entwicklungen relevant, die über unseren angestammten Versicherungssektor und sogar über den Finanzsektor hinausgehen: Digitalisierung und Nachhaltigkeit sind erst der Anfang. Damit bekommen wir neue Gesprächspartner, denen vieles, was uns selbstverständlich ist, unklar oder gar falsch und absonderlich erscheint. Dass die detaillierte Differenzierung der Deckungskosten in der Privatversicherung eine der Hauptbeträge für eine leistungsorientierte, effiziente Volkswirtschaft ist, ist außerhalb der Versicherungsbranche weitgehend unbekannt. Auch, dass Privatversicherung nicht a priori etwas mit Solidarität im Sinne von Subventionen oder Werttransfer zu tun hat, widerspricht einem weitverbreiteten Vorurteil. Aktuarinnen und Aktuare werden also verstärkt Grundlagenarbeit zu leisten haben, um das Wesen der Versicherung und die Bedingungen von Versicherbarkeit zu erläutern.

Das bringt mich zu einem letzten Punkt. Einige der Aktuarvereinigungen in der AAE entwickeln Rahmenwerke für die Aus- und Weiterbildung, sogenannte "competency frameworks". Ein Beispiel ist das SAI Competency Framework der irischen Aktuarvereinigung. Solche Rahmenwerke können verstanden werden als eine Erweiterung des Bereichs Wissen um die Bereiche Fertigkeiten und Eigenschaften, wie Belastbarkeit, Verantwortlichkeit oder Professionalität. Während wir Wissen durch Ausbildung gemäß unserer Syllabi sowie durch Weiterbildung erwerben und durch Prüfungen bestätigen können, werden Fertigkeiten und Eigenschaften eher durch berufliche Erfahrungen gewonnen. Sie sind daher weniger offensichtlich objektivierbar und im Detail nachweisbar. Gleichwohl sind sie entscheidend, wenn es darum geht, die Eignung für eine bestimmte Position oder Aufgabe nachzuweisen. Unser stark wachsender Berufsstand könnte hier auf ein europäisch einheitliches Rahmenwerk zielen und versuchen, die durch Erfahrung, durch Bildung oder anders erworbenen Fertigkeiten und Eigenschaften zumindest teilweise nachweisbar zu gestalten.